Der Titel „Figurescapes“ evoziiert Figuren, Menschen, „human beeings“, Persönlichkeiten in Verbindung mit "landscapes", d.h. Landschaften. Natur und Figur gehen hier - zumindest namentlich - eine Symbiose mit Ihrer Umwelt ein. Dieser Blick ist nicht neu. Mit der Ranaissance am Ende des ausgehenden Mittelalters konstatieren Wissenschaftler wie etwa Sedlmayr den „Verlust der Mitte“ beim modernen Menschen, der haltlos, entwurzelt ohne gemeinsame Identität und christliche Wertvorstellung auf sich selbst geworfen ist.
Verstärkt gilt dies seit der Romantik gegen Ende des 19.Jahrrhunderts. Mit dem Beginn der Industrialisierung fällt zudem die jahrhundertelang als gegeben geglaubte „natürliche“ Zuwendung des Menschen zu Boden und Natur - Indutrialsisierung contra Landwirtschaft - weg. In der Kunst hingegen kommt gerade der Natur in dieser Zeit besondere Bedeutung zu.
So kennen wir das Phänomen des Menschen „im Banne der Betrachtung“ der Natur, wie er in der Kunst eines Caspar David Friedrich oder eines Johan Christian Clausen Dahl auftaucht. Bildikonen wie „Mann und Frau den Mond betrachtend (1818-24)“, Menschen die die „Kreidefelsen auf Rügen (1818)“ bewundernd sehnsuchtsvoll anschauen und natürlich der einsame „Mönch am Meer“ (1810), der sich in der meditativen Betrachtung des endlosen, existentiell anmutenden Meeres vertieft. Diese Betrachtungen, bei denen der Mensch als Rückenfigur Teil einer Naturkomposition wird, verkörpern die Sehnsucht des Menschen nach dem Ursprünglichen, dem Natürlichen, der Verbundenheit mit der Natur. Dies im Gegensatz einer zunehmend als bedrohlich erlebten technologiegeprägten, frühindustrialisierten Gesellschaft, die diese natürlichen Grundlagen zu zerstören drohte.
In dieser Sicht wird die Natur zur Projektionsfläche des Reinen, Unberührten, des Anderen, des Bewahrenswerten und Schönen. Heute stehen wir vor ähnlichen Erschütterungen wie die Menschen der Renaissance und der Romantik. Durch Technologisierung, künstlicher Intelligenz und Robotik droht den Menschen Rückzug aus der Natur und eine Reduktion auf virtuelle Künstlichkeit. Zudem bedrohen Flüchtlingstöme und globale Arbeitsmärkte die Vor-Ort Ansässigen mit Verdrängung und Veränderung ihrer gewohnten Lebensweise. Flüchtlinge werden hingegen durch Kriege in ungewohntem Ausmasse entwurzelt und fühlen sich wiederum durch Abweisung der Ansässigen bedroht. Die gewohnten Werte geraten hier wie dort in Unordnung und Bewegung.
In Alexander Jungmeisters Fotografien sind es die Figuren, die reisen und an fernen, ungewohnten Orten wieder aufschlagen und sich in eine Landschschaft fügen, in die sie sich integrieren (müssen). Sie tun dies überraschend gut - der Strand ohne Figur wäre nur Strand, die Figur alleine wäre nur Figur. Die Kombination aber ergibt das Besondere, das Einzigartige. Die besondere Schönheit und Kraft der Natur wird durch den Kontrast mit der weissen Figur erst sichtbar, die wiederum so im romantischen Sinne eine Einheit mit der Natur bzw. ein grosses Ganzes wird. Hier schliesst sich der Kreis zur Romantik.
Bei Bettina Kirisits ist es der Körper, der ins allgemeine überführt wird und sich einer neuen Umgebung stellt - und diese dabei mit nach innen nimmt, wandelt und verwandelt und so die Widersprüche der Umgebung ins innerste mit hinein nimmt.
Pablo Picasso sagte: „Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.“ So ist es auch für für Bettina Kirisits. Die künstlerische Verarbeitung von Themen, die sie bewegen, das Erzählen der Gedanken in Farben und Formen, der Mut zur Spontanität, etwas durch bewusste Zufälligkeiten und dem Experimentieren mit dem Material entstehen zu lassen, durch Raum-, Struktur-, Linien- und Farbwelten Entdecktes scheinbar Unscheinbares auf ihre Art und Weise auszudrücken, ist für sie eine Leidenschaft geworden. Tag für Tag begegnen ihr Menschen und Dinge, die ihre eigene Kraft und Schönheit haben. Sie besitzen Geheimnisse. Diese Geheimnisse versucht sie in ihren Bildern interpretativ sichtbar zu machen und durch Gewich-tung von Farbklängen, Linien und Flächen wiederzugeben.
Dazu kommt allerdings ein weiteres Element, die spielerische, zufällige Begegnung von Kunstobjekt mit der Natur, in der es keine Ausstellung, keine Gallerie oder gar ein Publikum gibt. Das vorgefundene, wertlose, ubiquitäre wird vom Nichts zur Kunst durch die Beifügung und die Auseinendersetzung mit den Figuren. Dies geschieht ganz auch in der Duchampschen Tradition des „Readymade“. Das vorgefundene wird zum Kunstwerk erklärt. Damit schimmern aber auch bei aller Ernsthaftigkeit der Figuren Spuren von Schalk und Witz, von Freude am Zufall, von der Freude an der Gestaltung von Möglichkeiten im Sinne der dadaesken Tradition durch - eine mit Augenzwinkern verabreichte fantastische Medizin zur Eindämmung der Dämonen der Gegenwart.
Alexander Jungmeister, Bettina Kirisits, Luzern/Wien 2017